Nein! Doch! Oh! Diskussionskultur im Jahr 2020
Social Media ist ein zweischneidiges Schwert. Mit ihrem Wachstum hat nun auf einmal jeder zum ersten Mal in der Geschichte potentiell die Chance, seine Meinung zu äußern und auch gehört zu werden. Das ist schön. Das Problem an der Sache: Auf einmal hat auch jeder potentiell die Chance, zu allem und jedem seine Meinung zu äußern und sein Publikum dafür zu bekommen. Das ist nicht so schön. Warum? Weil die meistens oftmals schlicht keine Ahnung haben oder sie nur von einem selbstbewußten Halbwissen zehren. Und auf einmal steht dann deren Meinung gleichberechtigt zwischen der von Gelehrten und von Experten.
Während so ein Blog noch einen gewissen Zeiteinsatz erfordert, um wenigstens eine handvoll Menschen zu unterhalten, bieten die großen Social Media Plattformen dagegen das ganze Paket: Einfache Handhabung, schnelle Bedienbarkeit, eine schier grenzenlose Reichweite. Dazu das ganze komprimiert auf wenige Sätze oder Bilder, fertig. Da muss man sich nicht mit Differenzierungen, Relativierungen oder Einordnungen aufhalten, dafür ist schlicht kein Platz, es geht voll auf die Zwölf.
Was man auf den Plattformen zu lesen bekommt, ist, öfter als man es sich wünscht, einfach unterirdisch. Während Instagram ja noch vorwiegend von den schönen Bilderwelten lebt (das sicherlich dadurch aber bei manchen, besonders jüngeren, gewisse psychische Probleme befeuert), lassen sich auf Facebook (was ich mittlerweile fast nur noch als Newsreader und wegen des Messengers nutze) Kommentare unter Posts noch recht einfach ignorieren. Was aber mittlerweile tatsächlich meine Hassplattform Nummer 1 ist, das ist Twitter. Die offizielle Hass- und Häme-Plattform, ein Kanal zum Spalten, Denunzieren und zur Inszinierung seiner eigenen moralischen Überlegenheit. Und zum Ausleben seines Neides. Twitter ist für mich einfach die Klotür des Internet.
Angemeldet hatte ich mich dort vor einigen Jahren, um über Fußball diskutieren zu können (ein Thema, was hier im Blog ja leider nie wirklich funktioniert). Über die paar Leute, denen ich dort gefolgt bin, wurden mir dann aber immer mehr und mehr andere Tweets in meine Timeline gespült. Und dann ergab oftmals eines das andere.
Manche schrieben dort tatsächlich, Twitter wäre doch gar nicht so schlimm. Sie hätten die Liste der Follower so gepflegt, dass das für sie gut passen würde. Nun ist es aber so, wer in seiner eigenen Filter-Blase gefangen ist, liest auch nur noch das, was er auch lesen möchte. Selektive Wahrnehmung nennt man das in der Psychologie, auf Social Media großzügig unterstützt von den Algorithmen. So steigert man sich immer mehr in seine eigene Meinung hinein und wird von allen Seiten bestärkt, wie gut und richtig man doch selbst liegt und wie dumm und böse die anderen. Und irgendwann versucht man gar nicht mehr erst, die Argumente von anderen zu verstehen. Diskussion unnötig. Einfach mal googeln. Dabei gibt es immer Gegenargumente. Die Welt ist in den seltensten Fällen so einfach, dass es ein klares Ja oder Nein gibt. Und niemand hat immer Recht oder liegt immer falsch. Und diese Erkenntnis bedeutet auch – und das ist Teil der Wahrheit – dass auch Donald Trump und Dieter Nuhr mal etwas wahres sagen oder das auch Bild einen richtigen Artikel hat. Das sind nur die plakativsten Beispiele. Jedenfalls sollte man nicht reflexartig die gegensätzliche Meinung vertreten, nur weil Person XY das und das gesagt hat. Aber nein, es ist wichtiger, wer etwas sagt, als was er sagt. Das ist wie bei der Schulhof-Clique, die alle anderen doof findet, weil man sie eben doof finden muss. Pubertäres Gehabe. Radikalisierung im Internet passiert in jede Richtung.
Nun hat sich dieses Jahr ja etwas anders entwickelt, als wir es alle erwartet haben. Im Internet wird nicht mehr nur über die Qualität der neuen Star Trek Serien diskutiert oder darüber, ob Oliver Kreuzer einen guten Job beim KSC macht oder nicht. Nein, in diesem Jahr gibt es eine ausgesprochen hohe Bandbreite von gesellschaftlich relevanten Themen, sei es Klimaschutz, Gleichberechtigung, Extremismus oder der richtige Umgang mit der Pandemie. Zugegeben, das jetzt klingt ein wenig wie eine andere Version von gängigen Verschwörungsmythen, nach geheimen Netzwerken und Hinterzimmergesprächen, aber nichts hat mich dabei immer wieder so wütend gemacht wie Tweets von der von seiner eigenen moralischen Überlegenheit besoffenen Twitter-Elite. Sie wissen schon immer alles und auch alles besser. Sie wissen, welche Meinungen möglichst viele likes provozieren. Es sind immer die anderen, die scheinbar simple Zusammenhänge nicht verstehen, sich nicht an die Regeln halten oder von unter der Oberfläche wabernden Systemen profitieren. Und meist sind es die, die am lautesten und penetrantesten schreien, die eh nicht mehr als über ein selbstbewusstes Halbwissen verfügen. Vergleichen Dinge, die wenig bis nichts miteinander zu tun haben. Oder fordern Sachen, dessen Auswirkungen sie nicht absehen können. Hauptsache laut und je radikaler, desto besser. Oft ist das dann auch noch von einer bemerkenswerten Doppelmoral geprägt.
Man sollte meinen, bei solch hochkomplexen Themen, die unser aller Zusammenleben definieren und die die wenigsten Leute in ihre Gesamtheit überblicken können, da würde man sich jedes Wort einzeln überlegen und genau abwägen, ob man das so sagen kann, was das bedeutet und welche Konsequenzen das nach sich ziehen würde. Tja, falsch gedacht. Es ist einfach, auf „die Wirtschaft“ zu schimpfen und die Menschen dahinter auszublenden. Es ist einfach, aus seinem Vorstadthäuschen mit Garten heraus, die Leute anzugreifen, die es nicht wochenlang in ihrer kleinen Stadtwohnung aushalten können. Es ist einfach, andere dafür zu kritisieren, weil sie an solche simple Sachen wie Bundesliga, die neue PS5, den Besuch eines Gottesdienstes oder den Kauf eines Weihnachtsbaums denken, dabei braucht in diesen Zeiten jeder etwas, das ihn von den Einschränkungen ablenkt. Es ist einfach zu schreien, die Leute mögen doch alle zu Hause bleiben, dann wäre alles in kürzester Zeit vorbei, und dabei ausblenden, dass nicht jeder von zu Hause arbeiten kann, sondern irgendjemand auch die Nudeln herstellen muss, die dann ein Fahrer in den Supermarkt fährt, damit sie dort jemand ins Regal räumen kann. Es müssen mehr Leute aus dem Haus raus, als sich das jemand vorstellen kann, der den Luxus hat, tagsüber mal so nebenbei online gehen zu können. Aber um das zu sehen, muss man halt auch mal versuchen, über mögliche Gegenargumente nachzudenken.
Auch Leute, die es besser wissen müssten oder sollten, schreiben dementsprechend. Ausgebildete Journalisten, TV-Moderatoren, Witzbild-Zeichner. Ohne irgendein Verantwortungsgefühl für die Vielzahl an Follower, die sie haben, werden auch hier Zitate aus dem Zusammenhang gerissen, sinnlose Vergleiche gezogen, mit dem Finger auf andere gedeutet. Empathie war gestern, in der eigenen Blase wird es schon gut ankommen. Spalten statt vermitteln. Rote Linien werden gezogen um sich abzugrenzen, am Ende grenzen sie sich aber nur selbst aus. Und werden deshalb, bei allen guten Absichten, nichts erreichen, weil sie von ihrem elitären Ross aus vergessen, die große Mitte der Gesellschaft mitzunehmen.
Entschuldigung, wenn das ganze etwas arg abstrakt geblieben ist. Tatsächlich habe ich versucht, ohne konkrete Beispiele auszukommen, weil es mir eben genau darum geht, nicht irgendeine Einzelperson oder einen einzelnen Tweet heraus zu greifen. Das ist meiner Meinung nach auch gar nicht unbedingt nötig. Auf jeden Fall aber werde ich mich in den nächsten Tagen bei Twitter wieder abmelden. Da ich mir dort täglich die Münchner Covid19-Zahlen geholt habe, muss ich in Zukunft wohl dafür direkt auf die Homepage der Stadt gehen. Aber das ist auch kein Problem, wenigstens gibt es dort keine Kommentar-Funktion!
9 Kommentare
bullion
Ich verstehe deine Verzweiflung komplett. Und finde es wirklich, wirklich schade, dass niemand mehr Long-Copy-Content erstellt bzw. noch groß zu lesen scheint. Bis halt auf wir Blogger. Allerdings muss ich auch sagen, das Twitter mein liebster Social-Media-Kanal ist, was vermutlich auch an meiner „Bubble“ liegt, die größtenteils einfach entspannt ist und in der es zu 99% um Medien oder das Laufen geht. Zudem recht „linksversifft“ und politisch durchaus engagiert, was sich mit meiner Einstellung spiegelt. Klar werden auch mal Schwurbler reingespült, aber das gibt es ja überall und dann wird Contra geboten. Doofe Diskussionen blende ich aus, aber im Großen und Ganzen funktioniert es für mich sehr gut. Viel besser als FB und Instagram ist mir mit mobile only zu anstrengend.
Nummer Neun
Wie gesagt, mir fällt es leichter, bei Facebook und Instagram die Kommentare auszublenden. Bei Twitter sind die Schwurbler für mich nicht das große Problem, das ist ja relativ eindeutig, dass das quatsch ist, um es mal harmlos auszudrücken. Problematischer finde ich tatsächlich den „linksversifften“ Flügel, der sich oft durch eine nervige Überheblichkeit zu Wort meldet.
Ines
Bin auch nicht mehr so ein großer Twitter-Fan. Früher war mehr Witz und persönlicher Austausch, dafür weniger Diskussion zu einfach aaaallem.
Nummer Neun
Das Internet hat einfach seine Unschuld verloren…
Wörter auf Reise
Hey! Ich bin vor zwei Jahren durch meinen Blog auf Twitter gestoßen, weil es eine gute Möglichkeit war, die Beitrage zu „promoten“ & auf Gleichgesinnte zu treffen. Und habe dadurch auch liebe Menschen kennengelernt, mit denen ich mittlerweile auch Privat schreibe. Mit der Zeit fielen mir aber auch immer mehr negative Seiten auf, genau das was du, nebenbei hervorragend geschrieben, in deinem Text zusammengefasst hast. Twitter ist oft anstrengend. Und diese Doppelmoral stört mich auch und Diskussionskultur im Internet? Geht das? Die meisten machen sich da ziemlich einfach. Zu spüren bekommen habe ich Twitter vor paar Monaten bei einen Shistorm, ein Beitrag hat schlechte Wellen geschlagen, mir waren Fehler passiert und zack wurde sich da drauf gestößt und so dargestellt, als hätte ich plötzlich schon in der Vergangenheit so geäußert und wäre ein ach so furchtbarer Mensch. Richtig wütend haben mich da Non Mention gemacht, die nur dazu dienen Likes zu generieren. Da ich eine Angststörung habe, habe ich Twitter noch mehr reduziert, es wird immer wieder was in die Timline gespült und ich kann nicht den ganzen Tag über Todesfälle von Corona lesen. Bisher bin ich bei Twitter zwar noch, durch den Blog, aber habe meine Zeit extrem reduziert, poste was zu Filmen ect. aber lass die anderen da machen und geh dem anderen aus dem Weg, da weiß ich besser, wie ich meine Zeit verbringen kann. Uff, jetzt ist mein Kommentar doch etwas lang geraten 😀
Der Vorname bietet sich auch wunderbar für einen entspannten Abend an. Und kann ich bei Swiss Army Man kann ich verstehen, da Scheiden sich einfach die Geister.
Liebe Grüße
Nadine
Nummer Neun
Oha – ja früher wäre der wütende Mob mit Mistgabeln und brennenden Fackeln los gerannt, heute erzeugen sie mit ihrem Mist einen Shitstorm.
Aber tatsächlich musste ich jetzt erst einmal recherchieren, was „Non Mention“ bedeutet. Wem das auch so geht: Hier wird es ganz gut erklärt: https://anneschuessler.com/2013/03/20/anne-erklart-das-internet-die-nonmention/
Wörter auf Reise
so wahr. Ups, wieder der klassische Fall, dass man gewisse Begriffe verwendet, ohne drüber nachzuschauen, ob der jeweilige andere ihn auch kennt.
Miss Booleana
Da gehts mir ähnlich wie bullion. Twitter ist bei mir der Newsfeed, Meinungsfeed, Erheiterungsfeed … das was früher mal Facebook war. Meine Bubble dort scheint auch gut für mich zu funktionieren, denn ich kann das gar nicht mit deinen Erfahrungen vergleichen. Schade, dass Twitter so bei dir abgestunken hat – das klingt aber auch anstrengend und unangenehm, was du da schilderst. Aber offenbar war das „Überdenken“ der Follower und gefolgten Profile ja keine Option!?
Bei Instagram störe ich mich etwas an dem Heile-Welt-Image, habe da aber eben auch viele Profile rausgeschmissen, die rein influencen. Facebook hingegen ist für mich quasi tot. Das taugt bei mir nur noch als Veranstaltungskalender und weil meine Familie ja total drauf abfährt (^^‘) …
Was bullion oben angesprochen hat, finde ich aber auch ganz signifikant … das „missbrauchen“ der Plattformen als „einfachen“ Blog. Es ist ja soviel bequemer dort sein Zeug zu posten als aufwendig Videos für Youtube zu schnippeln oder zusammenhängende Texte für Blogs zu verfassen. Ich sehe das Abwandern von Youtubern und Bloggern zu Instagram ehrlich als Armutszeugnis … . Das geht dann wieder in die Richtung deines Einstiegs in punkto schnell und einfach eine Plattform für alle gedanklichen Ergüsse haben…frage mich wo wir da mal ankommen.
Nummer Neun
Tatsächlich nutze ich Facebook ja noch als News-Feed – und natürlich für die Veranstaltungen (also theoretisch, 2020 gab es dafür wenig Bedarf), sowie den Messanger. Twitter konnte dagegen nie so wirklich eine Funktion für mich erfüllen.
Zum zweiten Punkt: So einige Blogs, die jetzt ihre Abrufstatistiken veröffentlicht haben, zeigten alle recht positive Tendenzen für das letzte Jahr. Vielleicht wird das ja ein anhaltender Trend.